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Iras Klugheit

Aki gehörte ein grosses prächtiges Land, von hier bis dort und regierte es mit Bedacht. Aki reiste einmal unerkannt im Lande umher, um zu sehen, wie es eigentlich auf der Welt zuginge. Eines Tages kam Aki an einem Hof vorbei; dieser trug über dem Eingangstor die Inschrift: «Hier lebt man ohne Sorgen.» Aki blieb stehen und las die Worte, las sie wieder und las sie ein drittes Mal. Dann sprach Aki voller Zorn: «Wie können diese Leute solche Worte über ihre Pforte setzen: «Hier lebt man ohne Sorgen?» Mir gehört dieses Land und ich habe manches Mal so viele Sorgen, dass ich schon viele Nächte nicht schlafen konnte und diese hier leben in meinem Lande und wollen in den Tag hineinleben. Nun wartet, jetzt will ich euch Sorgen machen.» Aki trat an die Pforte, klingelte und fragte, wer hier das Sagen habe. Jemand machte das Tor auf und antwortete: «Ja, Raja hat das Sagen.» «So melde mich an», sprach Aki, «denn ich habe mit Raja zu sprechen.» Sogleich kam die Antwort: Aki möge hereinkommen. Aki trat ein, grüsste und sagte Raja, dass Aki das ganze Land gehöre und es regieren würde. Darüber war Raja sehr erfreut, denn der Besuch von Aki schien ein Huldbeweis zu sein. Aber bald ergriff Raja grosse Bestürzung. Denn Aki fing in barschem Ton zu fragen an, wie sie denn dazu kämen, eine solche Inschrift über dem Tore anzubringen. «Ich, Aki, regiere das ganze Land, lebe Tag und Nacht in Kummer und Sorgen um das Wohl meines Landes, und ihr, die hier lebt, wollt ohne Sorgen leben? Ich will euch nun zeigen, wie ihr zu Sorgen kommen könnt und euch drei Fragen zur Lösung geben. Erstens: Wie weit ist es bis zum Himmel? Zweitens: Wie tief ist das Meer an der tiefsten Stelle? Drittens: Wie weit ist das Glück vom Unglück entfernt? Heute über acht Tage komme ich wieder, mir die Antwort zu holen. Habt ihr die Fragen gelöst, mögt ihr ohne Sorgen weiterleben. Sind sie aber nicht gelöst, dann will ich den Hof verbrennen und euch aus dem Lande weisen.» Nach diesen Worten nahm Aki Hut und Stock und verliess den Hof. «Also heute über acht Tage», rief Aki noch einmal zurück, «verlasst euch darauf, Raja, bin ich wieder hier, um mir die Antwort zu holen.»

 

Sobald Aki fort war, schrieb Raja die sonderbaren Fragen auf ein Blatt Papier und legte es auf den Tisch. Dann begann Raja im Zimmer auf- und abzugehen und über die Lösung der Fragen nachzudenken. So vergingen ein, zwei und drei Stunden. Raja aber wollte keine Antwort in den Sinn kommen, womit nur halbwegs geholfen gewesen wäre. Alles, was Raja sich überlegte, schien nach reiflichem Überlegen nicht richtig. Unterdessen wurde es Abend. Raja verliess in gedrückter Stimmung das Zimmer. Sorgen fingen an zu quälen. Die anderen Menschen vom Hof bemerkten sehr bald, dass etwas Ernstes mit Raja vorgegangen sein musste. Endlich nach dem Nachtessen berief Raja alle zu sich, erzählte was vorgefallen war und bat: «Versucht auch ihr alles und helft mir nachdenken, so gut ihr nur könnt, damit wir diese drei verhängnisvollen Fragen lösen.» Sie gingen auseinander mit dem Versprechen, dass alle sich mühen wollen, die Antwort zu finden. Von da an begannen sich die Sorgen über den ganzen Hof auszudehnen. So verging der erste Tag und es verging der zweite, der dritte, der vierte, der fünfte und der sechste, das heisst der vorletzte Tag. Der ging seinem Ende zu und immer noch war keine Lösung der drei Fragen gefunden. Da wurden die Hofleute sehr traurig.

 

Als es nun gegen Abend ging, kam Ira, umherziehend, fröhlich ein Liedlein pfeifend zum Hof, um den Menschen Freude zu bereiten und sie zum Lachen, Tanzen und Singen zu bringen. Eine solch gedrückte Stimmung wie auf diesem Hofe, hatte Ira nie zuvor bemerkt; denn sonst waren alle froh und wohlgemut, wenn Ira ankam. Als das erste Lied verklungen war, fragte Ira darum, was das alles zu bedeuten hätte. Da erzählte Raja vom Besuch von Aki, von den drei Frage und dass die Zeit schon fast abgelaufen sei, nach welcher Aki wieder kommen wollte, um den Hof zu bestrafen.

 

Ira besann sich eine Weile und sprach: «Das sind allerdings drei verflixte Fragen. Aber trotzdem soll die Sorge nicht über uns triumphieren. Ich will Aki zeigen, was Iras Klugheit vermag. Nur eine Bitte habe ich an Raja, nämlich diese: eine halbe Stunde vor der Ankunft von Aki, will ich mit dir die Kleider tauschen. Bist du damit einverstanden, so sollt ihr alles mir überlassen.»

 

 

Raja gab gerne die Einwilligung und am anderen Tage, eine halbe Stunde vor der angegebenen Zeit, meldete sich Ira bei Raja und sie wechselten die Kleider. Ira war nun Raja geworden und Raja Ira.

Zur bestimmten Stunde kam Aki, um sich die Antworten zu holen. Man führte Aki hinein und stellte Ira-Raja vor. «Hier bin ich nun», sagte Aki, «um mir die Antworten auf die Fragen zu holen, die ich euch vor acht Tagen gestellt hatte. Seid ihr bereit dazu?» «Ich stehe zu euren Diensten», sagte gelassen Ira-Raja. «Also», fragte Aki: «Erstens: Wie weit ist’s in den Himmel?» «Eine Tagesreise», antwortete Ira-Raja verschmitzt, «glaubt ihr es nicht, so mögt ihr selbst nachsehen und mir beweisen, ob es mehr oder weniger ist.» Aki stutzte, konnte aber die Antwort nicht widerlegen und fragte weiter: «Wie tief ist das Meer an der tiefsten Stelle?» Einen Steinwurf», sagte Ira-Raja, «werft einmal einen Stein ins Meer, an seiner tiefsten Stelle, so fällt er von der Oberfläche bis auf den Boden. Glaubt ihr es nicht, so müsst ihr das Gegenteil beweisen.» Aki erstaunte, aber musste von neuem zugeben, dass dies nicht zu widerlegen sei. «Nun die dritte Frage», sagte Aki, «Wie weit sind Glück und Unglück voneinander entfernt?» «Eine halbe Stunde», war die Antwort von Ira-Raja, «denn vor einer halben Stunde war ich noch Ira, arm, umherziehend und ohne Haus und jetzt habe ich das Sagen auf diesem Hof. Glaubt ihr es nicht, so beweist mir das Gegenteil.»

 

 

Aki musste am Ende einsehen, dass auch die letzte Antwort richtig war und somit eigestehen, dass alle drei Fragen richtig gelöst waren. Aki lobte Ira-Raja wegen der Klugheit und verliess den Hof mit den Worten: «So mögt ihr meinetwegen ohne Sorgen leben.» Danach begann Ira das fröhlichste aller Lieder zu spielen und Aki und die Hofleute tanzten so ausgelassen wie noch nie jemand getanzt hatte, um Ira herum.

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